Die Londoner Society, Goethe und der Rest der gebildeten westlichen Welt bewunderten den jungen Lord Byron, unter anderem weil er zwischen 1809 und 1811, wie der romantische Held seines epischen Poems Childe Harold, den Balkan, die Levante und das mysteriöse Istanbul nicht nur bedichtet, sondern bereist hatte, während ihresgleichen gerade mal Italien als exotischen Horizont abgesteckt hatten. Byron aber muss gewusst haben, dass er mit dem draufgängerischen Flair des Überwinders kultureller Barrieren zwar seine (zumeist weiblichen) Fans beeindrucken konnte, und doch nur in die übergroßen Fußstapfen zierlicher Frauenfüße trat, in jene der Mary Wortley Montagu, die ein Jahrhundert vor ihm als Frau des britischen Gesandten in Istanbul zubrachte. Dass dieser bloß als Gatte der Lady Montagu in die Literaturgeschichte eingehen sollte, verdankt sich den erstaunlichen Briefen aus dem Orient, die der Wiener Promedia-Verlag kürzlich neu aufgelegt hat.
Erstaunlich ist hier in der Tat ein Euphemismus, ebenso wie es einer wäre, Mary Montagu als außergewöhnliche Frau zu bezeichnen. Ihre Apartheit überschreitet damalige sowie nachfolgende Geschlechterrollen. In ihrem Wesen gehen Wahrheitsliebe und Unvoreingenommenheit, wildfanghafte Neugierde und lebenserfahrene Abgeklärtheit, Hang zum Luxus und kühle politische Beobachtungsgabe eine ungewöhnliche Verbindung ein. Die kaum 28-jährige Frau dringt mit einer Abenteuer- und Erkenntnislust, die wenigen Männern ihrer Zeit zuzutrauen ist, in den Kern der osmanischen Gesellschaft ein wie vor ihr kaum ein Europäer und überrascht mit einer Haltung, die als synthetische Überwindung von Abwehr und Idealisierung des Fremden erst späteren Jahrhunderten vorbehalten sein würde.
Nur unzulänglich vermag die relative Modernität der englischen Gesellschaft des frühen 18. Jahrhunderts die Emanzipiertheit dieser Frau zu erklären. Vielmehr zählt sie zu jenen Ausnahmeerscheinungen, welche die Risse und Verwerfungen gesellschaftlicher Brüche ohne zu zögern auszufüllen wissen, mit irreversiblem Freiheitsdrang – gleich Kindern ohne Aufsicht in den Ruinen und Kratern von Kriegen – und in diesen kontrollfreien Zonen der eigenen Persönlichkeit eine Fülle erlauben, welche im freieren Klima späterer Gesellschaften zu schlankerer Norm zurückfällt. Natürlich schadet ihr die aristokratische Herkunft nicht, doch sollte man sich auch bei ihrer Klasse keine Illusionen über die Freiheiten einer Frau um 1700 machen. Wenigstens rettet sich in der Person der Mary Montagu die lebensbejahende Frivolität der Stuart-Zeit ins bürgerliche Zeitalter, dessen Wissbegierde und Aufgeklärtheit sie vorwegnimmt – ohne aber dessen Pragmatismus und sittliche Sprödigkeit mitzukaufen, die in der viktorianischen Epoche zum Landesnaturell avancieren und allerhand romantische und ästhetizistische Gegenmoden provozieren sollten. Und natürlich schadet ihr der Umstand nicht, als eine der schönsten jungen Damen der englischen Gesellschaft gepriesen zu werden. Selbst der Spott eines solchen Wesens adelt, den sie wie einen Sport praktiziert: »Männliche Dummheit bereitet mir größtes Vergnügen, Gott sei Dank ist das eine schier unerschöpfliche Quelle der Unterhaltung.«
Auch ein mentalitätspsychologisches Moment darf nicht außer Acht gelassen werden. Nirgendwo genießt Schrulligkeit des Charakters eine dermaßen gelassene Akzeptanz wie bei den Briten, quer durch alle Klassen, eine Narrenfreiheit, die sich eine bildungs- und lebenshungrige Frau wie Mary Montagu schlau zunutze macht. Es ist ein Land, wo Mangel an Exzentrik prätentiöser wirkt als diese selbst. Folgerichtig findet ihr Witz und Geist nach ihrer Übersiedelung von der Provinz in die Hauptstadt zielsicher die Gesellschaft eleganter Sarkastiker wie William Congreve und Alexander Pope, des neben seinem Freund Swift wohl bedeutendsten englischen Satirikers des 18. Jahrhunderts.
Zuvor hatte sie als geborene Mary Pierrepont eine Jugend in der Bibliothek ihres elterlichen Landsitzes in Südengland verbracht, aufgrund des frühen Todes ihrer Mutter und eines kaum präsenten Vaters sich über die obligatorische weibliche Erziehung hinweg eine Bildung und ein Selbstbewusstsein erarbeitet, die sie sich nie wieder würde streitig machen lassen. Nach einem langweiligen Ehejahr auf dem Land wird sie 1714 erwartungsgemäß die Sensation des englischen Hofes, der ihrem Geltungsbedürfnis jedoch bald zu klein ist.
Ein bedingungsloser Ehrgeiz treibt sie an, zu sein, wo vor ihr niemand war, um von dort aus die männliche Intelligenzija ihrer Zeit herauszufordern. Diese Gelegenheit kommt 1716 mit der Berufung ihres Gatten, Lord Edward Wortley Montagu, nach Istanbul, wo er als diplomatischer Mediator zwischen der Habsburger Monarchie und dem Osmanischen Reich fungieren und selbstverständlich die britischen Einflussmöglichkeiten am Sultanshof ausloten soll. So unüblich es für Frauen ihrer Zeit war, ihre Gatten bei solch beschwerlichen Missionen zu begleiten, so sehr dürfte erst jetzt sich der Sinn ihrer Ehe offenbart haben.
Die Herausgeberin Imelda Körner erweckt in ihrem Vorwort zu den Briefen aus dem Orient den nicht ganz korrekten Eindruck, Mary Montagu sei auf einer Modewelle des Orientalismus an die Hohe Pforte geschwommen. Doch das 18. Jahrhundert ist lang, noch regiert die feierliche Steifheit des Barock, es würde noch fünf Jahre dauern, bis Montesquieu seine Lettres persanes schreiben, 39 Jahre, bis Rousseau seinen »bon sauvage« konzipieren würde, und die Turquerie ebenso wie die Chinoiserie – in Innendesign, Kleidung und Musik – sind Moden, die erst richtig in den 30er-Jahren anheben würden.
Orientalismen schwappen seit den Kreuzzügen in unregelmäßigen Abständen über die westliche Welt hinweg. Der Islam bleibt aber die notwendige Gegenkonzeption, zu der sich das corpus christianum seine innere Kohäsion festigt. Der Maure, später der Türke, hat für den gläubigen Christen das dämonisierte Andere zu sein; die sich zunehmend säkularisierende Gelehrtenwelt fasziniert er und eine relativ dünne Schicht zumeist adeliger Exzentriker holt sich immer wieder Designideen von ihm. Der romantische Orientalismus indes, wie ihn Edward Said exemplarisch für viele Exotismen erörtert, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, ein Kind der Gegenaufklärung, ein Aufschrei gegen die Durchrationalisierung der Lebenswelten, die in die Fremde projizierte Mittelalterverherrlichung, die Feier gelassener Statik gegen die Dynamik des Fortschritts, von sündigem Müßiggang versus protestantisches Arbeitsethos und kapitalistischen Trieb- und Genussverzicht. Eines ist er vor allem: die Begleitmusik zu imperialistischer Unterwerfung und Ausbeutung. Um eine fremde Kultur zu idealisieren, muss man sich seiner Überlegenheit gewiss sein; sie muss ihre Bedrohlichkeit verloren haben; der kulturrelativistische Protest gegen europäische Arroganz ist selbst Bestandteil dieser. Das Fremde muss sich objektivieren lassen, um den Kapitalisten Rohstoffe und den Schwärmern Identität zu liefern. Lady Montagus Epoche stellt auch in dieser Hinsicht eine des Umbruchs dar. Noch steht die Superiorität des Westens auf wackeligen Beinen. Bis ins 14. Jahrhundert war die Behauptung westlicher Überlegenheit gegenüber der islamischen Welt lachhaft, die nächsten 200 Jahre debattierbar, ab der Renaissance evident. Doch das Zerrbild vom grausamen Türken führte sich selbst ad absurdum angesichts der bestialischen Glaubenskriege, mit denen sich Europa noch über 200 Jahrhunderte hindurch zerfleischen würde. Und wie die Osmanen im Mittelmeer, so hatte sich die englische Krone mittels Freibeuterei die Seeherrschaft über Atlantik und Indischen Ozean gesichert und konnte zu jener Wirtschaftsmacht aufsteigen, als welche sie zwischen zwei langsam verblassenden Dynastien – Osmanen und Habsburgern – vermitteln wollte. Erst mit dem Sieg der kaiserlichen Truppen über das osmanische Heer vor Wien 1683 war jene auch militärische Dominanz behauptet, in Folge derer der Schrecken des Orients seiner Faszination Platz machen konnte. Nicht zufällig in diese Zeit fiel die Publikation der »Märchen aus 1001 Nacht« durch den Orientalisten Antoine Galland und somit der Auftakt zur ersten wirklich massenwirksamen Orientophilie in Europa. Natürlich hatte Mary Montagu jene verschlungen, ebenso wie die gesamte verfügbare Literatur über das Osmanische Reich.
Auf ihrer Reise nach Istanbul machen die Montagus auch Zwischenstopp in Wien. Von ihrer anfänglichen Begeisterung für den Wiener Hof, für Damen, die mit Pistolen umzugehen wissen und selbst mit »Runzeln«, »grauem Haar«, »sogar einem kleinen Höcker zwischen den Schultern« von Kavalieren umworben werden, bleibt nur die Sympathie für den Gleichmut österreichischer Adeliger, mit dem sie den Amouren ihrer Frauen nachsehen, um dann unbelastet von schlechtem Gewissen den ihren nachzugehen. Überhaupt fahndet ihr kulturforscherischer Blick in jeder Gesellschaft zuerst nach den Möglichkeiten des weiblichen Seitensprungs – und das mit großer Empathie. Als, wie ihre osmanischen Erlebnisse bezeugen werden, vorurteilslose Beobachterin amüsiert ihre Wahrnehmung scheinbar konstanter österreichischer Stereotypen. »Es ist wahrlich nicht möglich, aus Österreich anregend zu schreiben. Schon bin ich von dem Phlegma, das hier in der Luft liegt, angekränkelt.« Und: »Die Österreicher sind ja für gewöhnlich wirklich nicht die höflichsten Leute der Welt, auch nicht die angenehmsten. Wien aber wird von allen Nationalitäten bewohnt, und der kleine Kreis, den ich mir geschaffen hatte, war ganz nach meinem Geschmack.« Zu diesem zählt Prinz Eugen, der ihr seine Bibliothek zur Verfügung stellt und mit dem sie anregende Konversation führt. Den Frauen am Hof attestiert sie »natürliche Hässlichkeit«. Die wenigen Schönheiten kämen aus Ungarn.
Die Erforschung und Bewunderung weiblicher Schönheit gehört zu den bleibenden Themen ihrer Korrespondenzen – und auf ihrem Weg über den Balkan nach Istanbul würde sie in reichem Ausmaß fündig werden.
Obwohl als universell gültiges Urteil formuliert, ist Wien die Stadt, in der sie dieses fällt: »Ich glaube jedoch, Ihnen nichts Neues mitzuteilen«, schreibt sie an Lady Rich, »wenn ich sage, dass auf der ganzen Welt die Priester lügen und der Pöbel blind glaubt.«
Auf dem Weg nach Belgrad passiert die Kutsche das Schlachtfeld von Karlowitz. Die noch verwesenden Leichen verleiten sie zu folgenden Reflexionen, die sie Alexander Pope aus Belgrad mitteilt: »Wie ungerecht ist doch ein Krieg, der den Mord nicht nur nötig macht, sondern ihn sogar zum Verdienst erhebt. Nichts scheint mir ein deutlicherer Beweis für die Unvernunft der Menschen zu sein (so schöne Ansprüche wir auch auf die Vernunft machen) als die Wut, mit welcher man um einen kleinen Flecken Land kämpft, wo ungeheure fruchtbare Gebiete unbewohnt sind. […] Ich neige sehr dazu, Mr. Hobbes zu glauben, dass die Natur sich unausgesetzt im Kriegszustand befindet. Daraus schließe ich aber, dass der Mensch kein vernünftiges Wesen sein kann, […]. Für die Richtigkeit dieser Betrachtung habe ich zahlreiche schlagende Beweise. Ich will Ihnen aber damit nicht lästig fallen und kehre zur schlichten Darstellung meiner Reiseerlebnisse zurück.«
Unvorstellbar, aber wahr: Mary Montagu überschreitet eine Reichsgrenze, die damals als Grenze zum »Reich des Bösen« begriffen und von nur wenigen Westeuropäern überschritten wurde, sie tut es aber so, als wechselte sie Hotelzimmer. Belgrad steht unter der Schreckensherrschaft der Eliteeinheit der Janitscharen, eines Staates im Staat, den erst Sultan Mehmet II. knapp 100 Jahre später eliminieren würde. Anschaulich schildert Lady Montagu das Klima des Terrors, den die Janitscharen auf dem Balkan verbreiten, fühlt sich jedoch durch die Loyalität ihrer Eskorte geschmeichelt. Jeder andere westliche Beobachter hätte diese lokale Besonderheit für ein Wesensmerkmal des Gesellschaftsganzen genommen. Nicht so Mary Montagu: Nicht nur weiß sie binnen kürzester Zeit über das gesamte kulturelle Gefüge des Osmanischen Reiches, sondern auch über sein politisches Bescheid, dass sowohl in der türkischen wie christlichen Bevölkerung Friedensparteien gegen die Janitscharen opponieren, die aus materiellem Interesse auf Kampf drängen, da – wie Wallenstein ein Jahrhundert zuvor aus der Schule geplaudert hatte – »der Krieg den Krieg ernährt«.
In Belgrad ist sie zu Gast beim gebildeten Ahmed Bey. Zu dessen Erstaunen überprüft sie die Authentizität von Gallands <I>1001 Nacht<I>, indem sie ihm Märchen daraus erzählt. Sie sprechen gemeinsam dem Wein zu und mokieren sich über Marienkult und die Verehrung von Heiligenbildern in der katholischen Kirche. Er unterrichtet sie in arabischer und türkischer Dichtkunst, und auf ihre Kritik der Absonderung der Frau in der islamischen Welt erwidert er, das habe den Vorteil, »dass niemand es wüsste, wenn unsere Frauen uns betrügen«. Ihren eigenen Schilderungen nach erwirbt sie binnen Monaten Grundkenntnisse des überaus schwierigen Türkisch, was man ihr ohne weiteres glauben mag, hatte sie sich doch schon vor ihrem achten Lebensjahr Griechisch und Latein beigebracht (indem sie heimlich den Privatunterricht ihres Bruders belauschte) und soll sie mit 21 Jahren in einer Woche das <I>Encheiridion<I> des Stoikers Epiktet übersetzt haben. Die Sachlichkeit, mit der die junge Lady Geschichte, Gesellschaft und Politik ihrer neuen Umgebung kolportiert, verblüfft ebenso wie die Originaltreue der osmanischen Termini – immerhin war es noch bis ins späte 19. Jahrhundert üblich, fremde Eigennamen und Begriffe (und somit das fragile Geflecht ihrer Bedeutungsnuancen) in mehr oder minder korrespondierende der eigenen Nationalsprachen umzugießen (man denke nur an die Umwandlung eines »Sir Andrew Aguecheek« in einen »Junker Christoph von Bleichenwang« in Schlegels Übersetzung von Shakespeares Twelfth Night/Was Ihr Wollt).
Mary Montagus Beschreibungsmodus muss auch heute noch jedem Ethnologen und Gesellschaftswissenschaftler Respekt abnötigen, ja zum Vorbild dienen. Wo andere sich in ängstliche Abwehr zurückgezogen und spätere Reisende diese mit Überidentifikation zu überwinden versuchten, gefällt sie sich in einer manischen Objektivität und dem durchaus eitlen Bedürfnis, in jeder nur erdenklichen Hinsicht von der Erwartungshaltung ihrer englischen Sozialisation abzuweichen. Ihre Korrespondenzen lassen ein methodisches Muster erkennen: sich nicht vom augenscheinlichen Flitter des Fremden zu sehr beeindrucken lassen, sondern den Blick auf das Wesentliche, die politischen und gesellschaftlichen Strukturen zu lenken, um nach bravouröser Erfüllung dieser Aufgabe sich dekadentes Schwelgen im orientalischen Luxus zu erlauben. Weiters jedes Vorurteil ihrer Herkunftsgesellschaft mit Reinlichkeit, Höflichkeit, Ritterlichkeit und Organisiertheit der osmanischen Welt zu konterkarieren, ohne ins Schwärmen zu geraten, weiters das Bedürfnis ihrer Briefpartner nach Exotik neckisch zu enttäuschen und Exotisches zu finden, wo es nicht erwartet wurde. Dass sie nicht wirklich in Herefordshire aufwuchs, sondern in der Weltliteratur, zumal der levantinischen der griechischen Antike, half ihr zweifellos dabei, den englischen Fokus auf einen metakulturellen auszuweiten und ihre Orientreise mit einer eingeweihten Abgeklärtheit wiederzugeben, als wäre sie am Bosporus aufgewachsen. »So siehst du denn«, schreibt sie ihrer Schwester, der Gräfin Mar, »dass die Sitten der Menschheit nicht so sehr verschieden sind, wie es unsere Reisebeschreiber uns glauben machen möchten. Es wäre vielleicht kurzweiliger, wollte ich aus eigenen Stücken einige absonderliche Gebräuche beisteuern, doch nichts erscheint mir anziehender und passender als die Wahrheit.« Die Adressatin dieser Worte wird diese wohl gut verstanden haben: dass das Zivilisationsgefälle sich eher innerhalb als zwischen Zivilisationen abstuft, war doch ihr Gatte, der Earl of Mar, kurz zuvor zum Tode verurteilt worden, weil er im sogenannten Ersten Jakobitenaufstand 12.000 wilde Hochländer gegen die Krone geführt hatte, die den Albanern, Tscherkessen und Ostanatoliern an pittoreskem Reiz um nichts nachstanden.
Besessen ist Mary Montagu vom Ehrgeiz, der gesamten Gelehrtenwelt ihrer Zeit mit fundierten Innenansichten dieser fremden Welt zu kontern, sie ihrer Ethnozentrismen auf der einen, ihrer Exotismen auf der anderen Seite zu überführen. Und von Anfang an weiß sie, dass ihr Geschlecht sich dabei als größter Vorteil erweisen würde. »Es bereitet mir ein besonderes Vergnügen, hier an Ort und Stelle Reisebeschreibungen über die Levante zu lesen, die meistens so weit entfernt von der Wahrheit und so voll Unsinn sind, dass ich mich dabei weidlich amüsiere. Niemals versäumen es die Verfasser, sich über die Frauen zu äußern, die sie niemals gesehen haben, und sehr weise über den Charakter der Männer zu sprechen, in deren Gesellschaft sie nie aufgenommen wurden.« Tunlichst vermeidet Mary Montagu in ihren Briefen jeden Anflug von allgemein als weiblich apostrophierten Eigenschaften wie Demut, Larmoyanz und Ängstlichkeit. Dass sie bei der Anreise beinahe in der Mariza ertrunken wäre, deutet sie nur kurz an, um sich wieder ihren Schilderungen von Architektur, Geschichte und Menschen zu widmen.
Kaum in Sofia angekommen, macht sie etwas für ihre Herkunft, ihr Geschlecht und ihren Stand sehr Ungewöhnliches, was ihr indes schon lange unter den Nägeln gebrannt haben muss. Sie schleicht sich in einem Reitkleid (der damaligen Freizeitmode) in ein türkisches Frauenbad und erfährt eine sinnliche Initiation. Obwohl sie überaus auffällig gewesen sein muss, »zeigte keine der Anwesenden auch nur das geringste Erstaunen und niemand trug zudringliche Neugierde zur Schau. Im Gegenteil, sie empfingen mich mit aller möglichen Zuvorkommenheit. Ich kenne keinen Hof Europas, an welchem die Damen einer Fremden so freundlich entgegentreten würden. Ich glaube, es waren insgesamt zweihundert Frauen da, und dennoch gab es kein verächtliches Lächeln, kein höhnisches Gespräch im Flüsterton, wie sie bei uns üblich sind, wenn in Gesellschaft jemand nicht streng nach der Mode gekleidet ist. Immer und immer wiederholten sie nur: ›guzél pék guzél‹, das heißt: reizend, sehr reizend.«
Sehr detailliert beschreibt sie die Garderobe der Badegäste – »in der Kleidung gab es allerdings keinen Rangunterschied, denn alle waren im Naturzustand, das heißt, offen gesprochen, splitternackt« – und macht keinen Hehl daraus, sich an der Schönheit der Frauen nicht sattsehen zu können. »Irgendwo glaube ich gelesen zu haben, dass Frauen stets in Verzückung von der Schönheit sprechen. Warum sollten sie es aber nicht? Ich halte es für eine Tugend, neid- und wunschlos bewundern zu können. Ich wenigstens gestehe unumwunden, dass mir der Anblick der schönen Fatima mehr Vergnügen bereitete als das herrlichste Kunstwerk.« Die »schöne Fatima« ist die Gattin des Groswesirs, mit der sich Mary bei ihrem Besuch in Adrianopel (Edirne), dem damaligen Sultanssitz, sofort anfreundet. Den Tanz von Fatimas Töchter und Sklavinnen reizt ihre Fantasie: »Nichts könnte kunstvoller und geeigneter sein, gewisse Vorstellungen zu wecken. Die sanften Töne, die schmachtenden Bewegungen, von Pausen und ersterbenden Blicken begleitet! Die Art, wie sie sich zurückbogen und kunstvoll wieder aufrichteten, all dies muss auch die kälteste und sittenstrengste Person auf Erden an Dinge gemahnen, über die man nicht spricht.« Gerade jene!, ließe sich ihr widersprechen. Derartige Anspielungen jedenfalls tragen ihr 150 Jahre später beim viktorianischen Bürgertum einen beneidenswert schlechten Ruf ein – einer gewissen Charlotte Bury galten Lady Montagus Briefe als so anstößig, »dass eine Frau, will sie nicht in Verruf geraten, gut daran tut, zu erröten, sobald das Buch auch nur erwähnt wird«. Es lässt sich wohl nicht verhindern, dass die heutigen Prozentrechner der sexuellen Enthüllung sofort auf lesbische Neigungen schließen würden. Mag sein, wenn ja, dann fein, wenn nicht, dann soll’s so sein. Sie selbst liefert keinen konkreten Hinweis dafür. Einer ihrer scharfzüngigen Aphorismen, für die sie berühmt war, deutet eher aufs Gegenteil hin – »das Einzige, was mich damit versöhnt, eine Frau zu sein, ist der Gedanke, dass mich das von der Notwendigkeit entlastet, mit einer verheiratet zu sein« – und beweist doch nichts. Der Frivolität ihres Ästhetizismus eignet noch aristokratische Verhaltenssicherheit im Gegensatz zu den späteren bis heute fortwirkenden Hysterien bürgerlicher Tabubrüche.
In Istanbul beziehen die Montagus eine Villa im Diplomatenviertel Pera am Nordufer des Goldenen Horns, dem heutigen Bezirk Beyoğlu. Dort bekommt sie, die viel auf ihre Sprachbegabung und kulturelle Flexibilität hält, einen verwirrenden Einblick in osmanische Multikulturalität: »In Pera spricht man türkisch, griechisch, hebräisch, armenisch, arabisch, persisch, russisch, slawonisch, walachisch, deutsch, holländisch, französisch, englisch, italienisch, ungarisch. Und, was noch schlimmer ist, zehn von diesen Sprachen werden in meinem eigenen Haushalt gesprochen. Meine Reitknechte sind Araber, die Diener Franzosen, Engländer und Deutsche, die Amme ist eine Armenierin, meine Hausmädchen sind Russinnen; ein halbes Dutzend anderer Bedienter sind Griechen, der Haushofmeister ein Italiener, meine Janitscharen schließlich Türken, so dass ich in einem unaufhörlichen Sprachengewirr lebe.«
Im gesamten Reich, teilt sie Pope eine der Grundcharakteristika des osmanischen Divide et impera mit, »geben die Türken sich nicht Mühe, ihre eigenen Sitten […] einzuführen, wie dies gewöhnlich andere Völker praktizierten, die sich höher gesittet glaubten«. Und es erstaunt sie die religiöse Flexibilität, am meisten an den Arnauten (Albaner), der einzigen nennenswerten militärischen Gegenkraft zu den Janitscharen. Da die Albaner die Überlegenheit einer Religion über die andere nicht entscheiden könnten, praktizierten sie sowohl die christlichen als auch die islamischen Riten. »Ich glaube kaum«, wundert sich die Herzogin, »dass eine andere Nation eine so bescheidene Ansicht von ihrer Urteilsfähigkeit hat.«
Einzig Mary Montagu entschlüpft, sobald die familiären und repräsentativen Pflichten erfüllt sind, dem Diplomatenghetto, inkognito, alla turca gekleidet, in die Stadt, besucht Bazare, Moscheen, Freundinnen der gehobenen osmanischen Society und geht als erste »freie« westliche Frau in Harems, Serails und Bädern aus und ein. Dabei wundert sie sich, wie zuvorkommend sie auf der Straße von den sonst eher furchterregenden Janitscharen behandelt wird, »als hätten sie gewusst, wer ich sei.« Die Sklaven, befindet sie, würden großteils besser behandelt als die unteren Schichten in Europa, und europäische Vorstellungen von der Unterdrückung der Frau versucht sie, wo immer es geht, zu relativieren. Innerhalb ihrer geschützten Bereiche besäßen Frauen, und zwar auch die des Mittelstands, mehr Freiheiten und Macht als ihre europäischen Geschlechtsgenossinnen. So weit reicht ihre soziologische Sensibilität allerdings nicht, diese weibliche Souveränität im Privaten als typisches Merkmal eines funktionierenden patriarchalen Gefüges zu erkennen, Gewalt und Respektlosigkeit gegenüber Frauen aber als typische Erscheinungen eben jener Umbruchszeit, der sie selbst entstammt, wenn dieses Gefüge von Frauen zunehmend in Frage gestellt wird.
Obgleich sie zumal als Frau eine spektakuläre Ausnahmeerscheinung war, zeigt sich in ihrem <I>Going native<I> ihre zutiefst feudale Geisteshaltung, ähnlich jenen französischen Aristokratensöhnen, die in den amerikanischen Kolonien des 17. Jahrhunderts sich eine exzentrische Mode daraus machten, indianische Sitten anzunehmen. Der unverhohlene Subtext dieses Verhaltens lautet: Der wilde Jäger und Krieger ist meinem Sittenkodex allemal näher als Bürger und Pöbel des eigenen Landes, und auch zivilisiertere Kulturen können nicht exotisch genug sein, als dass man sich deren Upper Classes nicht verbunden fühlte. In Lord Byron, um 1800, vollzieht sich der Übergang alter aristokratischer Grenzenlosigkeit zu den nationalen Grenzziehungen und -überwindungen der bürgerlichen Romantik.
Als ihresgleichen wird Lady Montagu von den osmanischen Honoratioren behandelt. Sie macht, was Diplomatengattinnen allgemein tun, sich mit Ladies der Gastgesellschaft anfreunden, shoppen, klatschen. Das Ungewöhnliche daran: dass sie dabei eine scheinbar unüberwindbare Kulturhürde schalkhaft negiert und nebenbei auch noch, wie ihr Orientalisten und Kulturwissenschaftler aller Epochen konzedieren, die denkbar objektivsten Darstellungen der orientalischen Gesellschaft aus dem Ärmel schüttelt – nicht nur der Serails, des morgenländischen Prunks, sondern auch der unteren Klassen, des Straßenlebens, der ethnischen Minoritäten wie Juden, Armenier, Raizen (Serben) und Griechen.
Trotz ihrer pazifistischen Reflexionen kann sie – auch das ein Nachhall ihrer feudalen Sozialisation – der autoritären Strafpraxis der Osmanen einiges abgewinnen, wie dem Brandmal für Lügner, und folgert ganz im satirischen Stil Swifts und Popes: »Wie viele weiße Stirnen würden wir auf diese Weise entstellt sehen, wie viele edle Kavaliere wären gezwungen, ihre Perücken bis zu den Augenbrauen herabzuziehen, wenn dieses Gesetz bei uns in Geltung wäre!«
Nach drei Monaten Konstantinopel verliert sie in einem sehr persönlichen Brief an Pope plötzlich die Großzügigkeit gegenüber dieser Kultur, mit der sie vor ihren Briefpartnern posiert hat – es platzt förmlich aus ihr heraus, wie bedrückend sie diese finde, aus welcher »die Musen entflohen« seien, »die Wissenschaften für ewig verbannt« schienen. Alle Reize und Schönheit relativierten sich angesichts der Angst und Repression, die das Leben dort ausmache. Ihre Liebe für doppelbödigen Wit und geistreiche Konversation fände bei ihren türkischen Gastgeberinnen keine Nahrung, weshalb sie zunehmend die ungezwungenere Gesellschaft ihrer griechischen Begleiterinnen suche. Sie beginnt die förmliche Höflichkeit der Türkinnen zu verachten. Doch nie ließe sie sich zu einem Kontrast zwischen Okzident und Orient hinreißen, als freier Geist hat sie derlei geisttötende Etikette ebenso am Wiener Hof, in seiner liederlichen Variante am französischen Hof kritisiert. Die Kosmopolitin verweigert sich konsequent dem Clash of Cultures, sucht Vertrautes und Fremdes in jeder Kultur, relativiert unentwegt kulturelle Grenzen – und entdeckt in der Fremde dann doch die Vorzüge ihrer modernen Individualität, welche ihrerzeit nirgends besseren Nährboden findet als im protobürgerlichen England.
Ihrem verzweifelten Brief war die Kunde von Prinz Eugens Sieg über Belgrad vorausgegangen. Die Montagus freuen sich über den Erfolg des geschätzten Feldherren, zumal sie über die Schreckensherrschaft der Janitscharen in dieser Stadt Bescheid wussten. Ein Janitscharenreiter hatte Lord Montagu die Nachricht direkt vom Ort des Geschehens überbracht, was einiges Licht auf seine hohe politische Position wirft. Ob dies von seiner Frau angemessen gewürdigt wurde, bleibt fraglich. Familienleben ist kein Thema ihrer Korrespondenzen. Immerhin hatte sie ihren Sohn Edward auf die Reise mitgenommen und im Februar 1718 einem Töchterchen das Leben geschenkt, weder die Kinder noch ihr Mann spielen in den Briefen (zumindest in den in der Promedia-Ausgabe abgedruckten) nur irgendeine Rolle – sie schreibt, als reiste sie allein. In Wien machen ihr die Kavaliere sehr eindeutige Angebote, sie weist diese höflich zurück, um keinen Preis jedoch durch Hinweis auf ihren Ehestand. Der Eindruck entkräftet sich nicht, dass Edward Wortley Montagu ein reines Mittel zum Zweck ihres Erlebnishungers ist. Das war nicht immer so. Mit 21 war sie noch unsterblich in ihn verliebt gewesen, die Hochzeitspläne scheiterten aber an der Uneinigkeit zwischen ihm und ihrem Vater – wegen einer Klausel im Ehevertrag, wer von den beiden die finanzielle Unterstützung des erstgeborenen Sohnes übernehmen solle. Indem er die Hochzeit, aus Angst, ohne Einwilligung des Vaters um Marys Mitgift zu fallen, drei Jahre hinauszögerte, zeigte sich Sir Wortley Montagu als wahrer Knauserer. Sie schien ihrem Mann also nicht nur intellektuell überlegen zu sein.
Mary Montagus Aufgeschlossenheit verdankt sich, dass sie ihren Sohn Edward, nachdem dieser in Istanbul an den Pocken erkrankt war, nach Landessitte mit Pockenerregern immunisieren ließ anstatt diese Praxis als Firlefanz oder Hexerei abzutun, wie es die europäische Medizin noch ein Jahrhundert lang tun sollte. Zwar konnte Lady Montagu bereits 1720 bedeutende Ärzte für die Propagierung der Pockenimpfung gewinnen, und setzte König George I. 1742 mit der Schutzimpfung seiner Enkel ein nationales Beispiel (nicht ohne sie zuvor an Sträflingen und Waisen testen zu lassen), doch offiziell verordnet wurde sie erst 1867.
Mary Montagus Leben verläuft weiter auf ungewöhnlichen Bahnen. Nachdem ihre Kinder flügge geworden sind, folgt sie 1738 ihrem um 23 Jahre jüngeren bisexuellen Lover Francesco Algarotti nach Italien in eine turbulente Beziehung – und nimmt auch damit den italienischen Amouren Lord Byrons ihren Pionierwert. Ihre Kinder machen gleichfalls Karrieren, wenngleich in recht unterschiedlicher Ausprägung: Ihr Sohn Edward mausert sich zu einem der verruchtesten Hochstapler des 18. Jahrhunderts – sein berühmtestes Hasardstück würde die Verführung der Frau des dänischen Konsuls in Alexandria sein, nachdem er diesen durch eine Falschmeldung nach Europa gelockt und ihn offiziell für tot erklärt hat. Er selbst erstickt 1772 an einem Rebhuhnknochen. Besser erwischt es seine Schwester Mary. Sie heiratet den späteren englischen Premierminister Earl Bute. Deren Mutter Mary Montagu aber zieht sich mit ihrem neuen Freund Ugo Palazzi, gleichgültig gegenüber allen arkadischen Moden des aufdräuenden Rokoko, auf einen Bauernhof in Brescia zurück, widmet sich der Zucht von Seidenraupen und dem Pflanzen von Tee und führt dort ein, wenn man ihren Briefen glauben darf, einfaches, aber glückliches Leben. Als sie 1762 in London stirbt, sollen ihre letzten Worte: »Es war alles sehr interessant«, gewesen sein.
Bereits 1724, anlässlich der Erstveröffentlichung der Orientbriefe, schreibt ihre Freundin, die Philosophin Mary Astell, eine der ersten Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit: »Wir wollen die Überlegenheit dieses Genies freiwillig eingestehen, so wie ich es mit aufrichtiger Seele tue, erfreut, dass eine Frau siegt, und stolz darauf, uns in ihr Gefolge zu mischen.«
Wie sehr sollten all die späteren Abenteurer im Tross der imperialistischen Ausbeutung mit ihrem Überschreiten exotischer Kulturgrenzen prahlen, wenn sie auf fremden Diwanen herumwetzten und doch nie die nonchalante Selbstverständlichkeit erreichten, mit der Lord Byron zuvor dort Platz genommen hatte, und wie sehr war diese doch nur Pose im Vergleich zu Lady Mary Wortley Montagu, die selbstvergessener, mit verspielter Neugierde als auch wissenschaftlichem Ernst die fremde Welt von innen sah, bis ihr nichts mehr fremd war. Ihre Briefe, in ihrer souveränen Beschreibung einer widersprüchlichen Welt, tragen gleichermaßen die Saat von Aufklärung und Gegenaufklärung, Materialismus und Romantik, Sozialreportage und Hedonismus in sich, sie könnten uns neben all dem Genuss, den sie bereiten, auch von der Anmaßung befreien, unser frühes 21. Jahrhundert sei nur irgend moderner als ihr frühes 18.
Dieser Artikel erschien 2007 in Literatur und Kritik.