Die Rezeption balkanischer Musik in Österreich
Gibt es in Österreich einen positiven Bezug zum Balkanraum, so artikuliert dieser sich zumeist in der Musik. Eine Entwicklung, die schon lange – seit über einem Jahrzehnt – schwelte, vor einigen Jahren kräftig aufflackerte und erst jetzt die Zeitungsblätter der führenden Medien entzündet hat. Die glaubten gleich einen Balkan-Hype oder Balkan-Boom zu erkennen, als hätte die Gypsy-Tuba den Buena Vista Social Club an der Multi-Kulti-Börse abgelöst. Dabei gestaltet sich das Angebot im World-Music-Sektor nach wie vor vielfältig und dezentral.
Der „Balkan-„ oder „Ost-Boom“ wird in Österreich gemeinhin anhand zweier Institutionen wahrgenommen: des Ost Klubs beim Schwarzenbergplatz in Wien und des einmonatigen Festivals Balkan Fever, das ich vor einigen Jahren ins Leben gerufen habe.
Zugegeben, als Spötter der Ethnisierung sozialer Wirklichkeit, aber Liebhaber vieler Musikformen, die als ethnisch bezeichnet werden, als langjähriger Kritiker der Multi-Kulti-Szene auf der einen, als Gründer des besagten Festivals auf der anderen Seite scheine ich in einem Widerspruch gefangen zu sein – praktisch diejenigen Bedürfnisse zu bedienen, gegen die ich auf anderer Ebene polemisiere. Doch ich glaube, aus dem Widerspruch einen Ausweg gefunden zu haben, den ich mit diesem Artikel skizzieren möchte und dessen Conclusio, das sei vorweggenommen, darin bestehen wird, dass Ost Klub und Balkan Fever einen Balkan- und Ost-Boom nicht nur anheizen, sondern diese – im Gegenteil – in vernünftigere Bahnen leiten.
Mazedonische Rhythmen in Dublin, New York und L. A.
Das Interesse für Musik des Balkans ist nicht irgendeine Ethnomode, die sich schnell durch eine andere abwechseln ließe und auch weitaus älter, als es die öffentliche Wahrnehmung weiß. Es sei nur an zwei Szenen erinnert, die früh ihre Fühler nach dem Balkan ausstreckten. Der irische Folk, zumal jener, der den Ballad-Singer-Folk durch instrumental anspruchsvollere Formen abzuwechseln suchte, entdeckte bereits Ende der 60er Jahre die Musik Südosteuropas für sich. Maßgebliche Initiatoren dieser Entwicklung waren Johnny Moynihan (Gründer und Mitglied der für das Genre bedeutenden Bands Sweeney’s Men, Dé Dannan und Planxty), der bei einem Inseltrip in der Ägäis seine Gitarre gegen eine Busuki eintauschte, und Andy Irvine (Sweeney’s Men, Planxty), der zwei Jahre lang den Balkan bereiste und hernach die gesamte irische Szene dazu verdonnerte, mazedonische und bulgarische Tunes in ihr Repertoire aufzunehmen. Das ist insofern erstaunlich, weil hier eine periphere und arme Region Europas einer anderen die Bruderhand reichte und irische Musiker sofort die Verwandtschaft zu Melos, Sound und Temperament südbalkanischer Formen spürten. Besonders das Zusammenspiel von Dudelsack (Uilleann Pipes in Irland oder Gaida auf dem Balkan), Flöte (Timber Flute oder Kaval), gestrichenen und gezupften Saiteninstrumenten (Gitarre, Mandoline, Irish Bouzouki, Harfe oder Tambura sowie Fiddle oder Gadulka) und Percussion (Bodhrán oder Tupan) hatte sowohl in Irland als auch in Bulgarien in der traditionalen Kunstmusik der Komponisten Seán Ó Riada (1931–1971) und Filip Kutev (1903–1982) ähnliche Ausprägungen erfahren. Der Funke schlug auf England und den Kontinent, auf die Bretagne, Frankreich, Skandinavien und Italien über.
Ein weiterer Stimulus zur Erschließung balkanischer Musik kam vom amerikanischen Klezmer-Revival, wo im Graubereich zwischen Jazz, Folk und Underground Bands wie die Klezmatics, Matt Darriaus Paradox Trio, Boiled in Lead oder Frank Londons Chassidic New Wave über den Rand ihres rekonstruierten Shtetls lugten und zunächst in Rumänien, dann auch weiter südlich Musikformen entdeckten, die in purerer und vitalerer Form brodelten als ihre revitalisierten „Freylakhs“.
Und noch ein zufälliges Beispiel für die Repräsentanz von Balkanmusik fand sich im Westen, und zwar Ende der 60er Jahre im US-amerikanischen Jazz, als Don Ellis’ neuer Pianist Milcho Leviev bulgarische Tunes ins Bandrepertoire einfließen ließ.
In den 80er Jahren schließlich griff das Phänomen World Music um sich, mit all seinen Chancen und Grässlichkeiten, in dessen Hauptstrom auch Künstler wie die rumänischen Taraf de Haïdouks und die unsterbliche Esma Redžepova aus Mazedonien schwammen. Und Radioprogramme, die auch den durchaus traditionsbewussten Eklektizismen von Tom Waits oder Nick Cave ergeben waren, entdeckten bereits den fiebrigen Sound walachischer und serbischer Wedding- und Funeral-Bands für sich.
Mazedonische Rhythmen und griechische Melodien in Wien
Deutschland und Österreich hatten Südosteuropa (mit Ausnahme Griechenlands) nur in Form des Gastarbeiterproletariats wahrgenommen. Doch mit den Balkankriegen wurde diese Wahrnehmung gehörig durcheinander gerüttelt. Einerseits verstärkten diese das rassistische Vorurteil von der größeren Barbarei der Balkanvölker, andererseits aber auch die Sensibilisierung für das, was diese Kriege zerstörten: eine bemerkenswerte multiethnische Bürgergesellschaft. Menschen aus Ex-Jugoslawien traten plötzlich als Subjekte in den heimischen Fokus: als gar nicht volkstümliche, urbane und beruflich qualifizierte Flüchtlinge, als tragische Schicksalsträger, als Ärzte, Programmierer, Regisseure, Feministinnen, Gesellschaftswissenschaftler …
Kurz davor hatten die Filme von Emir Kusturica das kulturelle Interesse für den Balkan angeheizt und doch nur den Blick auf eine jahrzehntelange innovative Filmtradition verstellt, die zu den großen des europäischen Kinos zählte. Und Goran Bregovićs Soundtracks führten den Klang balkanischer Gypsy-Brass-Bands an westliche Ohren, deren dreckig-ekstatischen Grooves ein vorhersehbarer Erfolg beschieden war.
Ende der 80er Jahre begann in der alternativmusikalischen Landschaft Österreichs ein Loch zu klaffen. Das Phänomen „Folk“ hatte sich überlebt und in der „World Music“ war man noch nicht angekommen. Man hörte zwar politische Liedermacher aus Lateinamerika und den USA oder flüchtete in die eingebildete Authentizität keltischer und mittelalterlicher Musik, aber der Südosten Europas war den meisten aufgrund seiner Nähe noch zu fremd.
Zwar pirschte sich die Folk-Institution Liederlich Spielleut mit mazedonischen Melodien von Norden an ihn heran und versuchte die Band Lakis & Achwach nach dem Erfolg des Films „Rembetiko“ Österreicher an urbane griechische Musik und zeitgenössische levantinische Lieder zu gewöhnen – Griechenland war zumindest Urlaubszone, das war Jugoslawien auch, aber nur an seinen adriatischen Rändern –, doch nie hätte man sich träumen lassen, zur Musik der türkischen oder balkanischen „Hackler“, die einem gerade den neuen Weinkeller gemauert hatten, zu tanzen.
Doch da trat unerwartet und auf den Zeitgeist pfeifend die Wiener Tschuschenkapelle auf den Plan und machte das Unmögliche möglich, Jahre vor dem Balkan-Hype, Jahre vor dem Balkan-Krieg übertrug der gelernte Soziologe Slavko Ninić, der es als Entertainer geschickt verstand, den rauen Charme eines slawonischen Traktorfahrers zu kultivieren, das österreichische Publikum mit der Herkunftsmusik der Hunderttausenden GastarbeiterInnen zu konfrontieren, die da den heimischen Reichtum miterarbeiteten. So übertrug er das Folk-Konzept auf Balkanmusik und sang sich mit sonorem Bass durch Pannonien, die Länder des ehemaligen Jugoslawien, den südlichen Balkan und die Türkei.
Klischees und Vorurteile
Die Kusturica-Filme hegemonialisierten Gypsy-Brass als authentische Ausdrucksform des Balkans – zuungunsten anderer nicht minder reicher Traditionen – und belieferten den westlichen Exotismus mit dem Zerrbild eines durchgeknallten Balkan-Bacchanals. Zumindest avancierte der fette, dreckige Sound halborientalischer Roma-Blasmusikkapellen zur ästhetischen Signatur der gesamten Region. Beim Protest gegen diese „Ziganisierung“ blieben erwartungsgemäß die rassistischen Untertöne auch innerhalb der südosteuropäischen Länder nicht aus.
Dass kulturelle Formen aus den Peripherien sich in den zivilisatorischen Zentren zu internationalen Moden ausweiten, ist kein neues Phänomen. Schon ins Alte Rom schwappten in periodischen Abständen Wellen des Orientalismus, seien es nun skythische oder ägyptische Einflüsse, die antiken Life-Style belebten. Weiters erinnert sei an den weltweiten Siegeszug des Tango argentino um 1900 und den afroamerikanischen Blues seit den 20er Jahren und das Revival des kubanischen Son in den 90er Jahren.
Erst die Vermischung der Balkan- und Orientekstase mit politischer Programmatik warf einige Widersprüche auf. Zunächst ging in Westeuropa das Interesse für Folk, World, ethnische Musik zumeist einher mit einem antirassistischen beziehungsweise antikolonialen Bewusstsein, das vermeintlich Fremdes gegen das vermeintlich Eigene förderte – und folglich sich in einer Spirale von Missverständnissen verhedderte. Einerseits legte diese Alternativkultur bei ihrem Schutz der Ausländer gegen die Hegemonialkultur ein maternalistisches Gehabe an den Tag, das die potenziellen Opfer des Rassismus, welcher diese zumindest als Subjekte diskriminierte, ein zweites Mal diskriminierte, indem sie sie zu Kuscheltieren ihrer Ausbruchsphantasien objektivierte. Andererseits näherten sich die als links verstehenden Szenen dem Fremden, ohne sich dessen bewusst zu werden, mit zutiefst rechten Konzepten. Sie verkörperten die allgemeine Kulturalisierung der einst sozialen, politischen und ökonomischen Diskurse innerhalb der Linken sowie das Bewusstsein einer rein konsumtiven Aneignung der Welt, welche nicht nur als kulturelle wahrgenommen wurde, sondern lediglich nach dem Aspekt der „kulturellen Bereicherung“.
Dieser humanistische Kulturrelativismus teilte sich mit jenem Rassismus, den er durch die Ethnisierung und Folklorisierung ihrer Schützlinge zu bekämpfen glaubte, eine ähnliche geistesgeschichtlichen Herkunft, etwa im Volksgeistkonzept eines Johann Gottfried Herder (1744–1803). Auf den alternativen „Soli-Festen“ wurde und wird der bunte Karneval eines kulturellen Nebeneinanders zelebriert, und zugleich unverhohlen die antimodernistische Begeisterung für das Vorzivilisatorische, Bodenständige, Echte, die ihr Feindbild in der amerikanischen Einheitskultur findet – ein Feindbild, das sich von dem der Rechten, nämlich der „amerikanischen Ostküste“, nur mehr graduell unterscheidet. Diese Rechte suchte ihre Identität in einer konstruierten eigenen Volkskultur, die Linke in fremder. Wenn diese „Kultur-Linken“ das kulturelle Selbstverständnis der Migranten gegen die faschistisch imprägnierte alpin-katholische Mehrheitskultur verteidigten, bewegte sich ihr Kampf zugleich auf einer höheren ideologischen Ebene, die sie dem verachteten „Musikantenstadl“ näher rückte, als sie es wahrhaben wollte: der Verteidigung ethnischer Partikularkultur gegen eine insgeheim verhasste urbane Zivilisation, deren Wurzellosigkeit den einen freien Flug, den anderen Bodenverlust, den einen individuelle Freiheit, den anderen bedrohliche Leere bedeutete.
Der Nationalsozialismus verachtete im Juden nicht nur die fremde Kultur, sondern auch die bessere Weiterführung der eigenen, den intellektuellen, urbanen Juden als Unglücksbringer einer kulturell entwurzelten Moderne. Das ist das Wesen des modernen Antisemitismus, gegen den auch die „Soli-Fest“-Linke nicht gefeit war, zelebrierte sie bei ihren „Anti-Fa“-Feten doch auch bloß die folklorisierte Shtetl-Kultur der Ostjuden.
Mit dem Balkan-Boom verhielt es sich zunächst nicht anders. Negativstereotypen wurden nicht überwunden, sondern lediglich lustvoll verkehrt. Der Dreck, den man in den Balkan, jene universelle Meta-Chiffre für Halbzivilisation, projizierte, wurde als sinnliche Schlammkur zur Therapie von kleinbürgerlicher Antisepsis willkommen geheißen. Im Wunsch nach ethnischer Wiederverwurzelung und Wiederverzauberung wurde der Balkan zu ewiger Ethnizität verdonnert und das herablassende Vorurteil positiv gewendet, diese Menschen da unten seien näher an Volkskultur als wir und ethnische Musik sei stets kollektiver Ausdruck ihres Selbstverständnisses. Das sitzt sehr tief und hartnäckig. Erst kürzlich wurde ich als DJ bei einer serbischen Neujahrsfeier von Österreichern unterrichtet, was d i e Serben gerne hörten. In Bezug auf eine bestimmte soziale Schicht hätten sie durchaus Recht gehabt, diese existierte in ihrem Denken aber nicht, es existieren nur d i e Serben.
Wie ethnisch sind wir?
Während man sich verbäte, im Ausland mit Landlern empfangen zu werden, weil man doch mit Punk oder Satie aufwuchs, so wie man sich verbeten würde, den Soundtrack zur Verfilmung des eigenen Lebens von Alphörnern blasen zu lassen, gehört zur unentwegt auf- und abgewerteten Aura des Balkanmigranten stets das Echo der psychopathischen Trompete oder kehliger Frauenstimmenlamenti, jene mythischen Bilder von Blut, Erde, Schweiß, Honig, Tränen und des ganzen erbärmlichen Kitsches beschwörend, den kein vernünftiger Mensch, weder auf dem Balkan noch auf dem Anti-Balkan, mehr ertragen kann.
Ein Indiz dafür, wie selbstverständlich auch das wohlmeinende westliche Bewusstsein Menschen der Kategorie „südöstliche Ausländer“ ethnisiert und zur gesichts- und schichtlosen Masse homogenisiert, ist die naive Vorstellung vieler Kulturmanager, mit den Auftritten von balkanischen Folk- und World-Music-Bands und deren zutiefst artifiziellen, „bürgerlichen“ Zugangsweisen sei der ex-jugoslawische Bevölkerungsanteil, zumeist Gastarbeiter, repräsentiert. Einzig und allein, weil sich das für uns ohnehin alles gleich anhört. Das lässt sich etwa mit dem Versuch eines einheimischen Tavernenbesitzers auf Mallorca vergleichen, die deutschen Proll- und Partytouristen mit Musik der Biermösl Blosn oder von Funny van Dannen zu empfangen.
So wie große Teile der österreichischen Bevölkerung ihre Schlager hören und auf Attwenger und Joe Zawinul verzichten können, hören jugoslawische Arbeitsmigranten zumeist alte Schlager aus der Jugend oder Folk-Pop, Ceca und Turbofolk; urbanere, gebildetere Kids frönen Undergroundrock oder Hip-Hop. Volksmusik wird folkloristisch wahrgenommen, aus Nostalgie einigt man sich bei der Familienfeier im Restaurant auf ein Repertoire von bestenfalls 20 Liedern – „Makedonske devojče“, „Jelena“, „Tsigane moj“ und ein paar bosnische Sevdalinke (Liebeslieder). Die restlichen 20.000 Lieder kennen nur noch der Ethnograph und ein paar steinalte Schäfer.
Balkan-Jazz: Trivialisierung des Jazz oder Aufwertung der Dorfmusik?
Ein hoch interessantes Phänomen, das erst am Anfang seiner verästelten Entwicklung steht und in österreichischen Städten wie Wien und Graz seine Hochburgen findet, trägt das Label „Balkan Jazz“. Mittlerweile distanzieren sich einige Musiker und Musikerinnen, die die Entwicklung dieser musikalischen Subspezies vorangetrieben haben, von dieser Bezeichnung. Diese Distanz ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn „Balkan-Jazz“ einem regionalen oder folkloristischen Reduktionismus dient, die Musiker sich in eine zu enge Kategorie gezwängt fühlen.
Problematisch wird sie dann, wenn Jazzmusiker das Attribut „Balkan“ als geschäftsschädigend empfinden und damit den Rassismus des Westens affirmieren, aus Angst, in ein provinzielles, ethnisches Eck gestellt zu werden. Doch stellt wohl jede ethnomusikalische Ausprägung auf diesem Planeten ein potenzielles Rohmaterial für Jazz dar und bedeutet keineswegs zwingend Provinzialisierung und Trivialisierung der Form. Analoges lässt sich von klassischen Adaptionen traditioneller Musik sagen. Im Zuge des nationalen Erwachens – in kapitalistischen wie kommunistischen Staaten – erwachte vor allem viel symphonischer Ethnokitsch, aber die Besinnung auf ethnische Formen prägte auch das Schaffen gediegenerer Komponisten wie Béla Bartok und George Gershwin.
Ein anderes Argument vermutet im Balkan-Jazz besonders, im Ethno-Jazz allgemein einen Kniefall vor breitem Musikgeschmack oder gar Kommerzialisierung. Ersteres gilt eher für den Rückfall in konservativere, gefälligere Formen, wie kommerzialisierte Paraphrasen auf Cool Jazz, der aalglatte Nu Jazz oder Pop-Jazz, völlig unabhängig von ethnischen Timbres. Letzteres ist insofern unmöglich, als Ethnojazz immer ein Minderheitenpublikum ansprechen wird. Hörer von Jugoschlagern und Turbofolk werden nicht zu Jazzfans, weil plötzlich vertraute Melodien im Jazz auftauchen, und schon gar nicht, wenn diese dabei dekonstruiert werden. Desgleichen wurde Alpin-Jazz-Fusion (z. B. Broadlahn) nicht kreiert, um im Musikantenstadl-Publikum zu fischen.
Balkan-Jazz als Begriff zu kritisieren ist der Mühe nicht wert. So er Gültigkeit haben soll, dann nur in der banalen Bedeutung, dass balkanische Themen paraphrasiert werden, so wie Latin Jazz mit lateinamerikanischen, Oriental Jazz mit orientalischen Motiven verfährt. Als abwertend empfindet ihn nur, wer den Begriff Balkan allgemein als Pejorativ wahrnimmt.
Dass es sich bei ethnischer Musik des Balkanraumes nicht um irgendeinen beliebigen Lokalismus handelt, der gerade zufällig schick ist, sondern die Gründe dafür durchaus in der Musik selbst liegen, diese im Vergleich zu anderen Volksmusikformen zu einiger rhythmischer Komplexität, zu harmonischem Reichtum (vor allem in Bulgarien) und melodischer Eigenwilligkeit fähig ist, beweist ihre Beliebtheit in unterschiedlichsten Zirkeln.
Die westliche Vorstellung davon, was ethnische Musik ist und was nicht, dreht sich im bereits bekannten und benannten Teufelskreis. Musik ist ethnisch, weil die Menschen als ethnisch empfunden werden, die sie machen. Der westliche Snob macht keinen Unterschied zwischen orientalischer Kunst- und Volksmusik, weil sein ethnozentristisches Diakritikum einzig in der Fremdwahrnehmung besteht, aber er würde den Inder verlachen, der Mozart und Hansi Hinterseer als Ausdruck einer musikalischen Kultur wahrnimmt. Ethnisch sind immer die anderen – leider oder Gott sei Dank. Ein modernes griechisches Chanson ist in unseren Ohren Volksmusik, weil das jede byzantinische Kirchenskala, auf der diese Lieder noch immer bauen, für uns ist, besonders wenn wir den Klang einer Busuki heraushören. So wie Brad Pitt und Laurence Olivier Westkultur verkörpern, während Omar Sharif und Antonio Banderas ethnisch sind. Der wahre Provinzialismus muht und blökt in unseren Hirnen.
Ein durchaus rassistisches Vorurteil will es, dass jedes vermeintliche Mitglied einer vermeintlich ethnischen Kultur an dieser kollektiv teilhat, während unsereins sich in einem verwirrenden Kosmos der – marktinduzierten – Individualidentitäten zurechtfinden darf. Doch viele Musiker des Balkanraumes haben von der Volksmusik ihrer Heimaten genau so wenig Ahnung wie wir. Schlichtweg, weil sie sich nie dafür interessierten.
Balkan-Jazz jedenfalls muss nicht zwingend die Verbäuerlichung der hehren Jazztradition bedeuten, er kann durchaus die Unterfütterung und Weiterentwicklung dieser amorphen musikalischen Gattung mit Elementen einer der musikalisch reichsten und anspruchvollsten Regionen der Welt bedeuten. Im Idealfall argumentieren ihn seine Musiker nicht mit einer Rückkehr zu den Wurzeln, sondern einer Erweiterung der Baumkrone, nicht mit dem Pathos der nationalen Selbstfindung, sondern – gelassener und souveräner – mit dem Umstand, dass die Musik schlichtweg gut ist, und da man schon das Glück habe, von dort zu kommen …
Wien
Es ist gerade Wien, wo unterschiedliche Interpretationen balkanischer Musik einander befruchten, wie es in ihren Heimatländern nie möglich gewesen wäre.
Lediglich „national notorisch unzuverlässige“ Romamusiker (wie etwa Šaban Bajramović) passierten die Grenzen zwischen den Balkanländern, der Bosnier Goran Bregović hatte als dekorativen klanglichen Aufputz seiner Balkan-Shows bereits die obligatorischen bulgarischen Frauenstimmen aufzubieten und über die Drehscheibe Mazedonien, ein Art musikalisches Missing Link zwischen Jugoslawien und Bulgarien, fanden die weltoffenen Musiker dieser Länder wie Theodosii Spassov, der junge Belgrader Pianist Vasil Hadžimanov oder der mazedonische Gitarrist Toni Kitanovski, der mit der Romakapelle Cherkezi die vielleicht überzeugendste Fusion aus Gypsy-Brass und Jazz geschaffen hatte, zusammen. Nicht unerwähnt dürfen an dieser Stelle auch die „panbalkanischen“ Projekte des in Paris lebenden exzellenten Bojan Zulfikarpašić bleiben, neben Milcho Leviev, Antoni Donchev und Harry Tavitian der wohl wichtigste Pianist des südosteuropäischen Jazz.
Doch das heißeste Laboratorium einer postnationalen und panbalkanischen Identität, speziell im Jazz, bleibt Wien. Man denke dabei nur an die Zusammenarbeit des serbischen Bassisten Nenad Vasilić mit dem bulgarischen Akkordeonmaestro Martin Lubenov oder eine facettenreiche multiethnische Sessionszene sowie die fluktuierenden Besetzungen der Projekte der Wladigeroff-Brüder oder des kaum 20-jährigen Pianisten und Arrangeurs Adrian Gaspar, der einen neuen Typus des Romamusikers repräsentiert: in Klassik und Jazz gebildet, selbstbewusst, urban und trotzdem mit beiden Beinen in seiner Community stehend.
Den pompösen Versuch, Balkanmusik mit einem Kompromiss zwischen Jazzgrooves und Trubači-Verrücktheit zu popularisieren, stellte das Sandy Lopičić Orkestar dar, deren Sängerinnen mit ihren Soloprojekten unschätzbare Beiträge lieferten zu Balkan-Jazz und World-Music, ohne sich freilich darauf reduzieren zu lassen: Vesna Petković, Nataša Mirković-De Ro oder Irina Karamarković mit ihren Programmen „Songs of Kosovo“ und „Sounds of Kosovo“. Ljubinka Jokić revitalisiert mit in Wien lebenden Musikern aller möglicher Ursprünge, von Sofia (die Wladigeroff-Brüder z. B.) bis zum Dunkelsteiner Wald (Otto Lechner), die gute alte Tradition des Jugorock mit starkem Roma-Timbre.
Turbo, Umtza, Kalaschnikowbeats und andere Pogrommusik
An dieser Stelle sei ein kurzer Einschub gestattet, der der Klärung eines weit verbreiteten Missverständnisses dienen soll. Westliche Veranstalter gebrauchen in zunehmendem Maß den Begriff „Turbofolk“ – und tun es immer falsch. Der Begriff suggeriert Drive, Power und Rasanz. Folglich titulieren sie damit Bands im stilistischen Spektrum zwischen traditioneller Musik und Folk-Punk. Die meisten dieser Gruppen würden den Ausdruck Turbofolk aber als Beleidigung empfinden, handelt es sich dabei doch um einen klar umrissenen Begriff. Turbofolk ist Folk-Pop, der sich zunehmend mit Elementen von House und Techno angereichert hat. Seine musikalische Qualität unterscheidet sich oft auch nicht von seinen westlichen Pop-Pendants, es sind vor allem die martialischen und reaktionären Konnotationen, die ihm die Verachtung seitens reflektierender Menschen zuziehen. Er ist nicht nur, aber zu einem beträchtlichen Teil beliebtester Konsumartikel jener Modernisierungsverlierer in Serbien, die auch die faschistische Partei SDS des Vojislav Šešelj wählen, aber auch in Kroatien und Bosnien Ausdruck jener reaktionären nationalistischen Machokultur der toughen Kurzhaarschnittypen, Neureichen und der nasen-, lippen- und busenoperierten Models und Popsängerinnen und ihrer Tausenden Imitantinnen. Turbo-Folk zeichnet sich durch außergewöhnlich dumme Texte aus. In Rumänien (aber auch anderen Balkanländern) wird er Manele genannt, in Bulgarien Chalga. Dabei handelt es sich bei Chalga (serbokroat. Čalgija, türk. Çalgia) ursprünglich um eine wertfreie Bezeichnung für urbane Musik, die stets stärker an der osmanischen Musik als den Volksmusikformen des umliegenden Landes ausgerichtet war.
Und dennoch verdrängt auf dem westlichen Markt unter dem Label „Balkan-Beat“ ein gewisser Musiktypus, der von diesem Turbofolk gar nicht so weit entfernt ist, alle anderen Formen südosteuropäischer Musik. Archetypisch dafür steht etwa DJ Shantel, der mit seinen durch und durch deutschen Radikaltrivialisierungen östlicher und südöstlicher Musik lediglich das daraus extrahiert, was westliche Partygeher gerade noch verstehen und empfinden können: martialische Schnelligkeit und simple Takte. Seine Verbundenheit zur balkanischen Kultur erklärt Markt-Führer Shantel auch folgerichtig rassisch, nämlich mit Großeltern aus der Bukowina. Dass die Bukowina musikalisch von – sagen wir – Mazedonien ungefähr so weit entfernt ist wie Korea von Sri Lanka, ist dieser dominanten Umza- und Kalaschnikov-Kultur egal. Wurst ob russischer Punk, ukrainischer Ska oder türkischer Pop, alles was schnell ist, irgendwie slawisch kriegerisch machoid klingt und worin mindestens eine Trompete ausflippt, hat in der öffentlichen Wahrnehmung das Etikett „Balkan“ bekommen.
Happy End: Balkan Fever im Ost Klub
Eine der wichtigsten Plattformen für die restlichen 98 Prozent südosteuropäischen Musikschaffens ist das Festival Balkan Fever; es ist uns zumindest gelungen, mit Hilfe des Festivalhypes dieser Vielfalt Repräsentanz zu verschaffen. Natürlich steht es den Musikern frei, auf ethnische Zutaten zu verzichten, nichts liegt uns ferner, als jene Erwartungshaltung zu unterstützen, die Künstler aus „ethnischen Ländern“ bloß als Botschafter ihrer Lokalkulturen akzeptiert. So sie dennoch ein unverkrampftes Verhältnis zu interessanten ethnischen Patterns aufweisen, ist es uns gerade recht. World-Music, gute traditionelle Musik fernab nationaler Identitätspolitik, kluger Undergroundrock, Jazz, Clubbingbeats – all das soll Platz haben bei Balkan Fever, das genüsslich versucht, die landläufigen Klischees und Vorurteile über den Balkan zu konterkarieren. Hinterfotzig, wie wir sind, bedienen wir die Kusturica- und Verwilderungsklischees (der Festivalname bürgt dafür) gerade mal so weit, das Publikum in die Konzertsäle zu locken, um hernach die Tore zu schließen. Dann muss es essen, was wir ihm auftischen, und hat es noch selten bereut. Es gilt letztlich einer österreichischen Öffentlichkeit, die den Balkan wegen seiner angeblichen Zurückgebliebenheit verspottet oder aber preist, einen chicen, eleganten, mit New York, Paris, Berlin, Odessa und Istanbul vernetzten Balkan zu präsentieren, der dem Österreicher ein paar Euro in die Hand drückt, wenn er ihm die Koffer aufs Hotelzimmer trägt; die vermeintliche Provinz als weltläufiger darzustellen als die eigene kleine Welt und diese dadurch ihrer Provinzialität und folglich ungerechtfertigten Überheblichkeit zu überführen.
Der von Mathias Angerer geleitete Ost Klub in der Schwindgasse, nahe dem Schwarzenbergplatz, deckt eher die Clubbing- und Dancefloorseite des nämlichen Programms ab und ist deshalb mit Balkan Fever freundschaftlich vernetzt – da musikalisch dort alles möglich ist, von Russendisko über Funk-Jazz, elektronische Musik zu Shtetl-Folk und Bauchtanz. Er ist ein eigenartiger, wenn nicht amüsanter Ort. Er ist die Keimzelle eines paraethnischen Hedonismus. In London, Wladiwostock und Istanbul spricht man von ihm. Er befördert alle Grässlichkeiten der Balkan-, Ost- und Orient-Manie, befördert auf eigentümliche Weise aber auch deren Überwindung. Denn wo immer großkotzig von Integration und Völkerverständigung geredet wird, geben sich dort sozial und ethnisch unterschiedliche Menschen die Klinke und das Wodkaglas in die Hand wie nirgendwo sonst. Und machen tausende Ethnologen und Integrationsingenieure arbeitslos; jene Spezialisten, die ethnische Grenzen erst konstruieren mussten, um sich als Experten ihrer Überwindung anzubieten. Integration funktioniert im Ost mit einer gelassenen Selbstverständlichkeit, Österreicher können dort ins Fremde eintauchen und die Lektion sich holen, dass es nichts wirklich Fremdes gibt, und Migranten aller Coleurs können dorthin aus der Enge ihrer Communitys entfliehen und trotzdem in einem neutralen Feld ihr kulturelles Selbstverständnis leben, ausweiten oder überwinden. Das Ganze funktioniert auf einer unprätentiösen Partyebene und ist frei von der Naivität und dem maternalistischen Arroganzgefälle des Soli-Festes.
Es hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Schon möglich, dass die heutige Jugend apolitischer ist, das bringt aber auch den Vorteil mit sich, dass sie politisches Denken nicht auf jene vegetative Ebene hinabzieht, wo es nicht hingehört. Die jungen Menschen tanzen und flirten miteinander, ohne sich das – wie ihre Elterngeneration – als antirassistische Basisarbeit oder subversive Grenzüberschreitung verbuchen zu lassen. Mit einem Türken oder einer Kolumbianerin zu schlafen, geht auch nicht mehr als antifaschistischer Widerstand durch. Man tanzt nicht zu orientalischen und balkanischen Beats, weil sie fremd, sondern weil sie vertraut sind – es haftet ihnen nicht mehr die Aura des alternativen Lebensentwurfs an, der fiebrigen Hoffnung, der Tschusch sei der bessere, sinnlichere, unmittelbarere Mensch als der Bürgermeister von St. Bonifaz im Trangau. Man geht mit Kemal, Süreya, Dragana, Dashi, István und Gitti aus Vorarlberg in die Schule und würde die Mystifikation von deren distinkter Herkunft ganz schön lächerlich finden. Oriental-Pop und Balkan-Beat sind nicht Verheißungen des Fremden, sondern bloß zwei privilegierte Formen im Vergnügungsangebot, zu deren sinnlicheren und verschlungeneren Melodien es sich sinnlicher tanzen lässt als zu Techno.
Und so wendet sich letztlich vieles zum Guten: Im Publikum wird auch jenes belämmerte Grinsen immer seltener, das immer dann Linksspießergesichter verzerrte, wenn die Völker auf folkloristischer Ebene zärtlich zueinander waren. Die reife Gleichgültigkeit der „Partygeneration“ (Ex-Bildungs-Ministerin Gehrer) gegenüber Differenz, die bloß noch individuell sich einlöst, mag jenen Kulturalisten das Wasser abgraben, die sich vor politischer Aktion und Analyse mit dem Organisieren von Romakonzerten und dem Abkassieren von Integrationssubventionen drücken. Und politisches Bewusstsein kann wieder dorthin zurückkehren, wo es hingehört, damit die Träger dieses sich nach vollbrachter Denkleistung eins abtanzen können – zum Beispiel im Ost-Klub in der Schwindgasse beim Schwarzenbergplatz oder bei den Konzerten des Festivals Balkan Fever.