Rezension von Richard Schuberths Roman
„Bus nach Bingöl“
“konkret”, Jänner 2021
Ahmet Arslan, die Hauptfigur in Richard Schuberths jüngstem Roman, kämpfte als kommunistischer Student in den späten 1970er Jahren in den Straßen Istanbuls gegen die kemalistische Regierung und die Grauen Wölfe, wurde wie viele andere gefoltert, eingesperrt, amnestiert und floh nach dem Militärputsch 1980 nach Wien, wo er sich als Erwachsenenbildner, Universitätsdozent und Sozialarbeiter durchschlägt. 28 Jahre später tut er eine weite Reise in seine Heimatprovinz Dersim, um seine greise Mutter noch einmal zu sehen und in Nostalgie zu schwelgen. Doch nichts ist dort, wie er es sich erwartet hat, und nicht einmal seine Erinnerungen halten der Realität stand.
Arslans Begegnungen im Bus und im Dorf machen eine veränderte Türkei erfahrbar: Die Türkei der Zweitausender Jahre, die die alte kemalistische für eine kurze Zeit ersetzt hatte, nun aber selbst nicht mehr existiert, weil sie spätestens 2016 von einer offenen Diktatur abgelöst wurde. Mit stillem Neid muss der Protagonist anerkennen, dass der politische Widerstand seiner Jugend von neuen Konflikten überschrieben wurde, sich von einem türkischen zu einem kurdischen, von der Stadt aufs Land verlagert hat – keine Provinz hatte in den 1990er Jahren unter schlimmeren Repressalien zu leiden gehabt als die Rebellenhochburg Dersim.
Bereits die Passagiere des Busses nach Bingöl skizziert Schuberth mit schnellen Strichen zu einer ansprechenden Milieustudie: der junge Rekrut auf seinem Weg zur „Terroristenbekämpfung“, ein deutscher Journalist auf dem Weg zu seinem Suizid, die Istanbuler Designerin, die über die anwesenden „Kopftuchweiber“ lästert (dies aber aus sozialem Ressentiment). Mit Absicht, so scheint es, unterläuft Schuberth das lineare Narrativ durch Digressionen und sogar einen 15-seitigen Roman im Roman, dem Psychoduell zwischen einer Teenagerin, die in der Hauptstadt abgetrieben hat, und einer sie erpressenden AKP-Muslima, die in ihrer Jugend Punk war. Hier analysiert der Autor einen sunnitisch-neoliberalen Pseudofeminismus, der um sozialen Distinktionsgewinns willen das Kopftuch aufsetzt, um sowohl gegen säkulare Eliten aufmucken als auch nach unten treten zu können.
Betreibt der Autor kulturelle Aneignung? Eher konsequente Entkulturalisierung. Denn was kann Richard Schuberth, was Mehmed Uzun, Yaşar Kemal oder Nihat Behram, bedeutende Figuren der kurdischen und türkischen linken Literatur, noch nicht beschrieben hätten?
Nun, Schuberth schreibt von Dingen, über die er nicht schreiben können sollte – ginge es nach dem postkolonialen Essenzialismus, den er selbst bei jeder Gelegenheit ad absurdum führt. Wobei er auch vor der kurdischen und der alevitischen Identität nicht Halt macht. Behutsam würdigt er durchaus Humanismus und kulturelle Schönheit dieser liberalen Religion, doch lässt er Ahmets Bruder, den zynischen Ex-Bürgermeister und AKP-Mitläufer Kerim, permanent Ahmets Romantisierung dieses Alevismus als Ersatzreligion für dessen nicht eingelösten Linksradikalismus erkennen und bespötteln, wie auch andere geschönte Dersim-Mythen. Die wohl handfesteste Bestimmung ethnischer Identität führt ihm der kurdische Aktivist İzzet vor. Als Ahmet ihn fragt, seit wann er denn dieses ausgeprägte Bekenntnis zum Kurdentum habe, antwortet dieser: „Im Gefängnis von Elazığ haben sie mich als Kurden geschlagen, seither bin ich einer.“
Ahmets Mutter weiß nicht die ersehnten ethnografischen Geschichten, sondern bloß Inhalte etlicher Telenovelas zu erzählen, und so flüchtet er sich vor dem „Idiotismus des Landlebens“ (Marx) in eine ästhetisierte außerdörfliche Natur, doch auch diese entzieht sich seinem Zugriff. So wie jede Gewissheit im Buch ausrutscht, jede behauptete Identität etliche Gegenmodelle auf den Plan ruft, lauert auch hinter der Gebirgsidylle das Verhängnis, zum Beispiel in Form der Gruppe versprengter junger PKK-Kämpfer, die er als Ortskundiger über einen Hochpass führt. Obgleich kein Freund der Lehren Öcalans, muss er den glaubhaften Antinationalismus dieser Freiheitskämpfer einbekennen, aber auch seine eigene Zurückgebliebenheit, als er bemerkt, dass die Truppe von einer Frau angeführt wird, obwohl er den intellektuellen Kontakt nur mit deren Männern gesucht hat. Diese neue Generation führt ihm vor Augen, dass er den ihm verhassten Liboşlar, den linksliberalen Muttersöhnchen seiner Jugend, immer ähnlicher sieht. So gerät Ahmet Arslans anfänglich ruhige Heimkehrergeschichte doch noch zum Abenteuerroman.
Die Authentizität und Empathie aber, mit der ein „weißer“ europäischer Autor sowohl die neue Türkei als auch das Landleben im kurdischen Dersim inklusive Ahmet Arslans retrospektive Verklärungen beschreibt, mag viele erschaudern lassen. Doch wird die intime Kenntnis des Beschriebenen beinahe als Falle gesetzt, um diese Authentizität am Schluss als eine Einbildung, als Ware für den westlichen Kulturmarkt auszuweisen. Dies geschieht durch einen Whistleblower seines Metiers, den deutschen Journalisten aus dem Bus, der es doch nicht geschafft hat, sich umzubringen, und dazu verdammt ist, weiter exotische Politreportagen zu schreiben.
Neben all diesen diskursiven und echten Battles findet der Roman noch genug Platz für Humor, vor allem in Arslans Abrechnung mit den gar nicht so unrassistischen Objektivierungen der Wiener Ausländerfreunde: „Die weißen Idioten wollten ihm eine Stimme geben, aber die seine nicht hören.“ Aber auch Platz für das Erzählerische, zum Beispiel in der gleichnishaften Außenseiterstory, mit der das Buch charmant ausklingt, der Liebesgeschichte zweier hässlicher Esel, die ihr Schicksal sozusagen in die eigenen Hufe nehmen.
„Bus nach Bingöl“ ist jedenfalls bestens geeignet, sich eine Fatwa seitens identitärer Sittenwächter von linker wie rechter Seite einzufangen.
Kübra Atasoy